[Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

Hermann Reichert hermann.reichert at univie.ac.at
Di Sep 27 10:47:28 CEST 2011


Lieber Herr Müller, liebe Liste,

es gibt zwei Probleme: das der Umsetzung der ‚Augenphilologie‘ in Akustik;
da muss jeder Vorleser im Augenblick entscheiden. Das andere ist das der
Erstellung der Basis für das Auge, die ja da sein muss, bevor sie umgesetzt
werden kann. In der Einleitung meiner Ausgabe (derzeit noch Konzept) wird
stehen:

„Für uns bedeutet das, dass wir im Zweifelsfall für die Publikation am
besten eine der Normgrammatik entsprechende Form einsetzen
(selbstverständlich mit Kennzeichnung der Abweichungen von D) und die
Vorleser ermutigen, das zu tun, was für Wolfram selbstverständlich war: für
den Einzelfall des Augenblicks ihre eigene Interpretation einzubringen. Auch
bei einem Theaterstück wären Aufführungen mit Fußnoten unerwünscht –
wahrscheinlich sogar bei Stücken von Bert Brecht.“ 

Diese Doppelgleisigkeit hat den Grund: Wir brauchen außer
Forschungsausgaben, die sich auf eine Handschrift konzentrieren (für den
Parzival: Bumke) und solchen, die Gesamtüberlieferung dokumentieren (Berner
Projekt) auch solche, die für die Suche nach Zeichenketten am Computer
geeignet sind, die als Grundlage für das (Vor-)lesen eines Stückes aus dem
Werk geeignet sind; diese beiden Verwendungszwecke erfordern Normalisierung
bzw. Standardisierung; diese beiden Zwecke kann man, mit der Möglichkeit des
Computers, verschiedene Schriftarten und –farben zu- und wegzuschalten, in
einer Ausgabe vereinen, und das soll die meine. Während der Sprecher sich
unverbindlich, das nächste Mal vielleicht wieder anders, entscheidet, ist
für den Herausgeber das Problem von Apo- und Synkope das schwierigste
überhaupt. Übrigens ist das Problem auch beim Vortrag nicht ganz so locker
zu nehmen, wie Ihr Aufsatz suggeriert: wenn Sie bestimmte Verse überfüllt,
fast knittelversartig, lesen entsteht der Eindruck, Wolfram mache sich hier
über eine Figur lustig; wenn Sie den selben Vers silbenarm und
bedeutungsschwer lesen , wird er das, was Sie in Ihrem Aufsatz ‚feierlich‘
nennen. Dadurch entstehen im Publikum unterschiedliche Gefühle und
Interpretationen. Der Vorleser manipuliert jedenfalls. Der Herausgeber
möchte es gern so wenig wie möglich. Ein Vorleser zur Zeit Wolframs wusste
vermutlich mehr darüber, was an den Schreibkonventionen doch nicht ganz so
frei war, wie es für uns den Anschein hat, und entschied vielleicht weniger
oft gegen Wolframs Intention als wir –  ganz die Intention des Autors errät
vermutlich nicht einmal ein Vorleser eines Romans von Thomas Mann, – aber
soweit es uns möglich ist, sollten wir doch den Versuch machen, auch (neben
den anderen oben genannten Typen von Ausgaben) benutzbare Lesetexte mit
möglichen, vielleicht sogar wahrscheinlichen, Grundlagen für die
Transformation Auge – Stimme zu bringen.

Mit herzlichen Grüßen

Hermann Reichert

 

 

Von: mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de
[mailto:mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de] Im Auftrag von
Ulrich Müller
Gesendet: Sonntag, 25. September 2011 12:21
An: 'Mediaevistik: Kulturen des deutschsprachigen Mittelalters'
Betreff: Re: [Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

 

Lieber Herr Reichert, liebe Liste,

 

nach meinen Erfahrungen ist die Diskussion um die Apokope eine
„Augenphilologie“. Bei damaligen Rezitieren oder Singen war es
gleichgueltig, wie das  geschrieben war, denn beim Vortrag wurde wohl je
nach Lust und Laune der Vortragenden „verschliffen“ – man muss nur einmal
heutige Saenger/innen anhoeren oder sich ganz schlicht in einen Gottesdienst
setzen ….

 

Mit besten Gruessen, Ulrich Mueller

 

Zum Thema „Augenphilologie“ siehe das Attachment.

 

  _____  

Von: mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de
[mailto:mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de] Im Auftrag von
Hermann Reichert
Gesendet: Sonntag, 25. September 2011 08:53
An: 'Mediaevistik: Kulturen des deutschsprachigen Mittelalters'
Betreff: Re: [Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

 

Liebe Liste, herzlichen Dank an Herrn Stolz für den Hinweis, dass außer den
10 von mir kontrollierten Hss auch alle anderen an dieser Stelle
apokopieren. In der Berner Editionsprobe sieht man das wunderschön. Das
erhellt aber die Relevanz meiner Frage: Wenn der Archetypus apokopiert (das
war mir nach der Kontrolle 10 wichtiger Hss schon sicher) – muss es dann
Wolfram auch getan haben? Ich bitte also die Liste: wer wirklich kompetent
in Altfranzösisch ist (oder jemanden kennt, der es ist und diese Mail
gezielt an die Romanistik weiterschicken kann), möge bitte helfen: sprach
man um 1200 ‚roiame‘ oder ‚roiam‘?

Mit herzlichen Grüßen

Hermann Reichert

 

 

Von: mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de
[mailto:mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de] Im Auftrag von
Stolz, Michael (GERM)
Gesendet: Samstag, 24. September 2011 21:18
An: Mediaevistik: Kulturen des deutschsprachigen Mittelalters
Betreff: Re: [Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

 

Lieber Herr Reichert,

 

dass in Parzival 251,3–4, alle Handschriften apokopieren, bestätigt sich im
Blick auf die Editionsprobe des Parzival-Projekts:

 

http://www.parzival.unibe.ch/editionen.html

 

Auf "Verse 249.1–249.30" gehen, dort die Siglenleisten der Handschriften
anklicken und bis zu Vers 251,3 f. durchscrollen (es sind jeweils die
Transkriptionen von Vers 249,1 bis 255,30 eingebunden). In einigen
Handschriften sind die Verse allerdings entstellt.

 

Ob um 1200 für die Aussprache von französisch "roiame" bereits ein "e muet"
(also "roiam") anzusetzen ist, das in Wolframs Text als "royam" erscheint,
müssten uns berufene Sprachwissenschaftler/innen bestätigen.

 

Mit herzlichen Grüssen

 

Michael Stolz

 

-- 

Prof. Dr. Michael Stolz

Universitaet Bern

Institut fuer Germanistik

Laenggass-Str. 49

CH-3000 Bern 9

 

Tel.: +41 31 631 83 04

Fax: +41 31 631 37 88

E-mail: michael.stolz at germ.unibe.ch

URL:  <http://www.parzival.unibe.ch/stolz/>
http://www.parzival.unibe.ch/stolz/

 

 

Von: Hermann Reichert <hermann.reichert at univie.ac.at>
Antworten an: "Mediaevistik: Kulturen des deutschsprachigen Mittelalters"
<mediaevistik at mailman.uni-regensburg.de>
Datum: Sat, 24 Sep 2011 16:04:38 +0200
An: 'Das deutschsprachige Mittelalter'
<mediaevistik at mailman.uni-regensburg.de>
Betreff: [Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

 

Liebe Liste, Zwierzina, ZfdA  46 (1900), S. 54, nennt unter den vielen
Belegen für seine Ansicht, dass Wolfram von Eschenbach von der Apokope kaum
Gebrauch machte, obwohl die Handschriften stark apokopieren, Parzival
251,3-4: 

Der bürge wirtes royame,  

 Terre de_Salvæsche ist sîn name. 

Hier haben alle Textzeugen, auch die Zwierzina nicht bekannt gewesenen,
Apokope im Reim. Zwierzina geht davon aus, dass altfranzösisch roiame
gesprochen wurde, also für Wolfram auch name anzusetzen ist. 

Wer kann so gut Altfranzösisch, um die Frage zu beantworten: Wie sicher ist
es, dass um 1200 französisch roiame gesprochen wurde, und nicht etwa roiam?
In vielen Fällen hat Zwierzina allerdings, glaube ich, Recht; an sich wäre
es für die generelle Einstellung zu den Apokopen bei Wolfram nicht
entscheidend, dass einige seiner Belege nicht Stich halten; aber diese
Stelle wäre deswegen interessant, weil hier wirklich alle Handschriften (ich
verglich DGIOTmno F21 F69) apokopieren.  

Mit herzlichen Grüßen

Hermann Reichert

 

  

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