[Mediaevistik] Vorlage und Abschrift

Eisermann, Falk Falk.Eisermann at sbb.spk-berlin.de
Do Mai 18 12:01:07 CEST 2017


Lieber Herr Seelbach, Collegae,
ich wäre vorsichtig mit Aussagen zu der Frage, ob eine konkrete Hs. als Vorlage eines Drucks gedient hat. In den maßgeblichen Publikationen zur Überlieferung erhaltener Vorlagen für Inkunabeldrucke (Margaret Lane Ford: Author's Autograph and Printer's Copy. Werner Rolewinck's "Paradisus Conscientiae". In: Incunabula. Studies in Fifteenth-Century Printed Books presented to Lotte Hellinga. Hrsg. Martin Davies. London 1999, S. 109-128; Lotte Hellinga: The Text in the Printing House: Printer's Copy. In: Dies., Texts in Transit. Manuscript to Proof and Print in the Fifteenth Century. Leiden/Boston 2014 [Library of the Written Word, Bd. 29] S. 37-101, mit einem kommentierten Verzeichnis erhaltener Vorlagen) werden die beiden untengenannten Gießener Handschriften 851 und 813 nicht genannt. In Ihrer Beschreibung zu Gießen 851 heißt es: "Vorliegendes Autograph war Vorlage für den Marienthaler Druck der dt. Version des Opus tripartitum: auf den Rändern der Hs. nachgetragene arabische Zahlen entsprechen der Seiteneinteilung des Marienthaler Druckes." Bei Hs 813 ohne nähere Begründung: "Druckvorlage für den Druck von Johann Zainer, Augsburg 1472 (= HAIN 9187)."

Hellingas Ausführungen (S. 41ff.) ist zu entnehmen, daß die tatsächlich in einer Druckerei verwendeten Vorlagen, ob Hss. oder Drucke, jeweils sehr distinkte Merkmale und Gebrauchsspuren aufweisen, die aus dem Prozeß der Satzvorbereitung, Satzeinrichtung ("casting-off") und der Drucklegung selbst resultieren. Beschrieben wurde dieses Phänomen für deutschsprachige Texte des 15. Jh. bisher, soweit ich weiß, nur für den Reisebericht von Hans Tucher (s. diverse Publikationen von Randall Herz) und - natürlich - für die Schedelsche Weltchronik (lat. und dt. Fassungen). Textliche Übereinstimmung zwischen einer Hs. und einer Inkunabel - auch sehr enge Übereinstimmung - reicht hingegen nicht aus, um eine Hs. als konkrete Vorlage eines Drucks zu benennen. Insofern wäre es wichtig zu erfahren, ob die beiden von Ihnen genannten Hss tatsächlich in der Druckerei gewesen sind und ob sich das auch nachweisen läßt. In der GW-Datenbank erzielt eine Volltextsuche mit dem Begriff "Druckvorlage" derzeit 55 Treffer (bezogen auf alle Sprachen) - nur sehr wenige Textzeugen haben den Aufenthalt in einer Druckerei des 15. Jh.s überhaupt "überstanden"; üblicherweise waren die Druckvorlagen nach dem Satzvorgang in einem desolaten Zustand und wurden entsorgt.

Generell stellt sich nach meinem Eindruck bei dem von Nathanael Busch aufgeworfenen und in den letzten Tagen ertragreich diskutierten Problem wohl die Frage, ob man den Begriff "Vorlage" eher textlich-stemmatologisch oder überlieferungsgeschichtlich-kodikologisch verstehen will.

Beste Grüße, FE

Dr. Falk Eisermann
Referatsleiter
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Von: mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de [mailto:mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de] Im Auftrag von Karl Ulrich Seelbach
Gesendet: Donnerstag, 18. Mai 2017 10:55
An: Mediaevistik: Kulturen des deutschsprachigen Mittelalters
Betreff: Re: [Mediaevistik] Vorlage und Abschrift

Die Nibelungen-Handschrift O (Berlin Mgq 792) ist Vorlage für das Nibelungenlied im Ambraser Heldenbuch (Wien ÖNB Ser. nov. 2663); vgl. Seelbach, Späthöfische Literatur 1987, S. 191 (dort auch die wichtigste Literatur zur Frage).
Hs. Gießen 851, Nr. 4 (Opus tripartitum, dt. von Gabriel Biel) diente als Druckvorlage für HAIN 7655
Hs. Gießen 97 (Iwein) wurde 1521 abgeschrieben: Stadtarchiv Lindau P II 61
Hs. Gießen 813, Nr. 3 (Meister Ingold): Druckvorlage für Hain 9187.
Hs. Gießen 1040 (ca. 1470/1): Abschrift aus Köln StA, Ms. 214* (ca. 1460)
Hs. Gießen 970: Abschrift  aus Zwickau, Ratsschulbibl. XIII, II, 6

Beste Grüße, U. Seelbach
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