[Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

Max Grosse max.grosse at uni-tuebingen.de
Mo Sep 26 07:01:56 CEST 2011


Sehr geehrter Herr Reichert,

es handelt sich auch im Französischen nicht nur um ein phonetisches, sondern
auch um ein metrisches Problem: Zunächst einmal wird das stumme e („e
caduc“) am Ende der weiblichen Verse im altfranzösischen wie im
neufranzösischen Vers grundsätzlich metrisch nicht gezählt; also die Verse
„C’est le cuens Felipes de Flandres / Qui miax valt ne fist Alisandres“
(„Das ist der Graf Philipp von Flandern, der Alexander den Großen
übertrifft“, Chrétien de Troyes, Le conte du Graal 13f.) sind echte
Achtsilber, obwohl e nach muta cum liquida in „Flandres“ und „Alixandres“
schon aus phonetischen Gründen sicherlich gesprochen wurde – in diesem Fall
würde das e sogar im modernen französischen Vers gesprochen, aber natürlich
niemals metrisch gezählt.

Im Altfranzösischen war es üblich, das auslautende e der weiblichen Verse zu
sprechen; ich kann jetzt allerdings kein genaues Datum für den Wechsel zur
modernen Regel, es nicht zu sprechen, angeben, suche aber, ob ich etwas
Entsprechendes in den Nachschlagewerken zur französischen historischen
Phonetik finde.

Zu Frau Laude: Die Ausprache des e caduc ist DAS Grundproblem des
französischen Verses im Unterschied zum Vortrag von Prosatexten;
beispielsweise jeder französische Schauspieler beschäftigt sich in seiner
Ausbildung ausführlich damit; man kann keinen französischen Vers korrekt
vortragen, ohne sich damit befasst zu haben. Wenn man Dichtung nicht
grundsätzlich als überflüssig ablehnt, gibt es also durchaus lebensfernere
Probleme.

Mit herzlichen Grüßen,

Max Grosse

 

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Dr. Max Grosse

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Von: mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de
[mailto:mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de] Im Auftrag von
Hermann Reichert
Gesendet: Sonntag, 25. September 2011 22:38
An: 'Mediaevistik: Kulturen des deutschsprachigen Mittelalters'; 'Corinna
Laude'
Betreff: Re: [Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

 

 

Sehr geehrte Frau Laude,

wenn man Wolframs ‚Parzival` oder ‚Willehalm‘ liest und dabei die fast
unbetonten e apokopiert bzw. synkopiert, ändert sich die Silbenzahl stark;
manche Verse werden viel stärker oder schwächer gefüllt als andere; der Text
wird je nach Herausgeberentscheidung sehr regelmäßig oder fast
knittelversartig. Manchmal entstehen dadurch bei der einen oder anderen Art
zu lesen komische Effekte, die dazu verleiten können, anzunehmen, Wolfram
wolle damit signalisieren, er meine diese Aussage nicht ernst sondern mache
einen Spaß. Wenn Sie den Parzival nach Lachmann oder Bartsch oder Leitzmann
lesen, entstehen im Leser sehr unterschiedliche Gefühle – und laut
vorgelesen bekommen war im Mittelalter die normale Rezeptionsform. Niemand
las nur mit den Augen, auch wenn er für sich selbst las. Durch
unterschiedliches Lesen  wird unsere Einstellung zu den Figuren und ihren
Problemen stark verändert. Wenn Sie diese Frage als ‚lebensfremd‘
bezeichnen, bezeichnen Sie jeden Versuch, mittelalterliche Literatur
verstehen zu wollen, als lebensfremd. Solche Leute sind zwar auf der Welt
die große Mehrheit, aber die kommen eben nicht auf den Gedanken, sich mit
dem Mittelalter zu beschäftigen.

Mit freundlichen Grüßen

Hermann Reichert

 

Von: mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de
[mailto:mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de] Im Auftrag von
Corinna Laude
Gesendet: Sonntag, 25. September 2011 22:09
An: mediaevistik at mailman.uni-regensburg.de
Betreff: Re: [Mediaevistik] Altfranzösisch und Wolfram

 

Dürfte jemand von sehr fern vielleicht eine Antwort erhoffen können auf die
Frage, wem zu welchem (nunmehr ja zweifelsohne ausschließlich) historischen
Behufe dieses etwaig fehlende "e" fehlt?

Nein, eine Antwort wird nicht mehr erwartet. Dazu ist die Frage zu
lebensfremd.

Mit freundlichen Grüßen sich aus der Liste verabschiedend,
C. Laude

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