[Mediaevistik] Clytus Gottwald 1925-2023

Sven Limbeck limbeck at hab.de
Di Jan 24 16:27:04 CET 2023


Liebe Kolleginnen und Kollegen,

 
wie kein anderer hat Clytus Gottwald die Katalogisierung der abendländischen Musikhandschriftern geprägt und befördert. Es war seine Studienfreundschaft mit Wolfgang Irtenkauf, der seinerezit die Handschriftenabteilung der Württembergischen Landesbibliothek leitete, die dazu führte, dass Gottwald zu Anfang der 1960er-Jahre anfing, die Musikhandschriften in Stuttgart zu katalogisieren – in einem Handschriftenzentrum avant la lettre, wo sich zeitgleich Johanne Autenrieth und Virgil Fiala anderen Beständen widmeten, während Ernst Kyriss Einbände erforschte und Gerhard Piccard Wasserzeichen sammelte. Gottwalds „Empfehlungen für eine zeitgemäße Katalogisierung von Musikhandschriften“ erschienen 1963 in dem Band Zur Katalogisierung mittelalterlicher und neuerer Handschriften, jenem Band, der die Tagung an der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel dokumentierte, mit der das DFG-Programm der Katalogisierung der mittelalterlichen abendländischen Handschriften ihren Ausgang nahm. Aus Gottwalds Feder stammen die Kataloge der Musikhandschriften der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart, der Universitätsbibliotheken München, Freiburg i. Br., und Kassel, der Staats- und Stadtbibliothek Augsburg, der Universitätsbibliothek der Schermar-Bibliothek Ulm, die von 1964 bis 2004 im Druck erschienen. Begleitend hat Gottwald zu Wasserzeichen publiziert und sie in seinen Katalogen zur Datierung angewandt – zu einer Zeit, als so manche Kolleginnen und Kollegen aus der Handschriftenbearbeitung der Methode noch skeptisch gegenüberstanden. All dies nannte Gottwald einmal einen „Seitenzweig“ seiner Tätigkeit. 
1925 im schlesischen Sandburg geboren, 1944 in die Wehrmacht eingezogen, sehr bald in amerikanische Kriegsgefangenschaft geraten, kehrte er, wie es in seinen Lebenserinnerungen heißt,  „in die Fremde“ heim. Sein Frankfurter Doktorvater Helmuth Osthoff brachte ihn zur Alten Musik, und in seiner Doktorarbeit (1961) widmete er sich dem Komponisten Johannes Ghiselin. Zeitlebens bildete die franko-flämische Polyphonie eine Grundlage seines musikalischen Denkens und Schaffens. Nach Frankfurt aber war er eigentlich gekommen, um bei Adorno zu hören. Seit seiner Studienzeit prägte ihn das Miteinander und Auseinander von Alter und Neuer Musik. Später hat er mir einmal mit verschmitztem Lächeln anvertraut, er bekenne seine Verbindung zu dem Philosophen der Neuen Musik gar nicht so gerne, weil er dann immer als eine Art Kontaktreliquie Adornos betrachtet werde. Das ist nur ein Beispiel für Gottwalds selbstironischen Humor. Seit 1958 Kantor der Stuttgarter Paulus-Gemeinde, gründete er dort die Schola Cantorum, mit der er Musikgeschichte schreiben sollte. Zunächst ein Klangkörper, der der praktischen Wiedergewinnung der polyphonen Chorliteratur diente, ging das Vokalensemble von Hindemith aus konsequent den Weg in die Moderne. Über achtzig Werke, die von mehr oder weniger allen Komponisten stammen, die nach dem Zweiten Weltkrieg in und außerhalb der Darmstädter Schule Bedeutung gewannen, hat die Schola uraufgeführt. Zeitweise galt Gottwald als der „Guru der Neuen Musik“ schlechthin. Dass ein auch kulturell zertrümmertes Deutschland wieder Anschluss an die internationale Avantgarde fand, gehört zu einer von mehreren Lebensleistungen von Clytus Gottwald. Neben vielem, was er in Jahrzehnten publiziert hat, legte er 2009 seine Lebenserinnerungen unter dem Titel Rückblick auf den Fortschritt vor. 
In dem Musikhistoriker, Denker, praktischen Musiker und Komponisten Clytus Gottwald verbindet sich die Erforschung der Musikgeschichte und Sicherung ihrer Quellen mit dem musikästhetischen Aufbruch in der jungen Bundesrepublik und dem Nachdenken über Gegenwart und Zukunft der Musik. Gottwald vermochte die Bewahrung des Hergebrachten mit dem Anspruch auf das absolut Moderne zu versöhnen. Als Kollege war er ein väterlicher Freund, als Künstler und Intellektueller ein Riese, der uns Nachfolgende nie hat spüren lassen, dass sie Zwerge sind. Am 18. Januar 2023 ist Clytus Gottwald im Alter von 97 Jahren gestorben.     Roger   12.00       Normal   0                           21         false   false   false      DE   X-NONE   X-NONE                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                                    
Mit besten Grüßen,
Sven Limbeck
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Dr. Sven Limbeck, Stellv. Leiter der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen, Musiksammlung

Herzog August Bibliothek, Lessingplatz 1   38304 Wolfenbüttel   Tel. +49 5331 808-123



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