[Mediaevistik] Rezension

Dr. Dieter Riemer dr.riemer at nord-com.net
Di Mai 24 01:15:50 CEST 2011


Christian Hetz

Die Rolle des Sachsenspiegels in der Judikatur des deutschen 
Reichsgerichts in Zivilsachen, Gesamtbetrachung aller Entscheidungen von 
1879 bis 1945,

Solivagus Verlag Kiel 2010, EUR 32,00

 
Viele Historiker haben ein Problem, dessen sie sich manchmal selbst 
nicht bewusst sind. Sie haben die Materie, mit der sie sich befassen, 
nicht gelernt. Insbesondere für das Mittelalter sind die wichtigsten 
Quellen die Urkunden. Über die Jahrhunderte hob man nur das auf, was für 
eventuelle Streitigkeiten wichtig war: Staatsverträge, Testamente, 
Vereinbarungen über Grundstücke, Erb- und Heiratsgut etc..Derartige 
Urkunden sind zu allen Zeiten von Juristen für Juristen geschrieben 
worden. Einen notariellen Kaufvertrag, wie er täglich dutzendfach in 
ganz Deutschland den Kaufvertragsparteien von den Notaren vorgelesen 
wird, versteht inhaltlich niemand, der zum ersten Mal oder auch nur 
gelegentlich ein Grundstück kauft oder verkauft. Warum steht im Vertrag 
nur das Grundstück und nicht eine detaillierte Beschreibung der schicken 
Villa, die doch der Grund für den hohen Kaufpreis ist? Was sind eine 
Auflassungsvormerkung oder eine Belastungsvollmacht? Wo liegt der 
Unterschied zwischen Urschrift, Ausfertigung, beglaubigter und einfacher 
Abschrift?

Christian Hetz hat mit obigem Titel seine Dissertation über die 
Nachwehen des Sachsenspiegels in der Rechtsprechung des Reichsgerichts 
vorgelegt. Über den Titel hinaus befasst er sich auch mit Spuren dieses 
ursprünglich privaten Rechtsbuchs in der Rechtsprechung des 
Bundesgerichtshofes und des Bundesverfassungsgerichts. Vielleicht liegt 
es an seiner atypischen Distanz zum Thema seiner Arbeit, dass diese im 
Gegensatz zu anderen jüngeren rechtshistorischen Dissertationen 
allgemeinverständlich geschrieben ist. Hetz hat in Salzburg und Wien 
Rechtswissenschaften studiert, was schon die etwas anders klingenden 
Fachbegriffe und Redewendungen verraten. Neben der juristischen 
Ausbildung und einem Master of Laws hat er ein 
Wirtschaftsingenieurstudium  und ein Zusatzstudium für Informationsrecht 
und Rechtsinformation abgeschlossen. Die Dissertation über diesen Aspekt 
des Sachsenspiegels führt daher unerwartet zu einem Dr. Ing.

 Für den Historiker sind die von ihm in der Rechtsprechung gefundenen 
Fälle eine Einführung in wichtige mittelalterliche Rechtsprobleme. Hetz 
beleuchtet mehrfach das Spannungsverhältnis zwischen dem Sachsenspiegel 
und dem römischen Recht, zeigt aber auch die Unbekümmert auf, mit der 
die Richter jeweils auf das Institut zurückgriffen, welches ihnen die 
gewünschte Lösung ermöglichte. Er behandelt die notwendige Zustimmung 
der Erben bei Vermögensverfügungen und den vergeblichen päpstlichen 
Versuch, im Interesse des Kirchenmögens diese Regelung des 
Sachsenspiegels außer Kraft zu setzen. Hieran war nach der Darstellung 
im Sachsenspiegel schon Karl der Große gescheitert -- zumindest was den 
sächsischen Adel betraf. Angesprochene Rechtsgebiete wie eheliches 
Güterrecht, die Munt des Ehemannes, Anlandungen in Flüssen und an Ufern, 
Ersitzung, Verjährung, Schadensersatzrecht erlauben einen gut 
verständlichen Streifzug durch den Sachsenspiegel.

Hetz zeigt die jahrhunderte lange Rechtstradition von der Niederschrift 
des Sachsenspiegels bis zum Bundesverfassungsgericht unserer Zeit. Er 
schärft damit den Blick dafür, dass die Grundsätze des Sachsenspiegels 
auch schon in den Jahrhunderten vor seiner Kodifizierung Gültigkeit 
hatten und sich immer wieder in früheren Urkunden wiederfinden lassen.

 
Dieter Riemer

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