[Mediaevistik] Ziemlich Off-Topic: Schule im Mittelalter bzw. Eselsmütze

Michael Baldzuhn michael at baldzuhn.de
Mit Aug 19 16:20:30 CEST 2009


Liebe Frau Fiebig,

am einschlägigsten dürften für Sie die Schulordnungen sein. Das in 
solchen Dingen oft nützliche Findemittel, Nyströms "Die dt. 
Schulterminologie in der Periode 1300-1740" (Helsinki 1915), weist zwar 
zur Sache leider nichts aus, aber die rasche Durchsicht durch Müllers 
Quellensammlung (Johannes Müller, Vor- und frühref. Schulordnungen, 
Zschopau 1885-86) belegt den Asinus etwa für Stuttgart 1501 (S. 130: 
'azing' dort sicher verlesen aus 'azinus'), Memmingen 1513 (S. 186: der 
asinus gemeinsam mit dem lupus, dem "Aufpasser") und Nördlingen 1521 (S. 
225: Wenn ich diese Stelle richtig verstehe, dann wurde in N. von der 
Schule sogar ein echter Esel vorgehalten, um Schüler zur Schande darauf 
reiten zu lassen). Ob sich in Vorbaums "Evangelischen Schulordnungen" 
(mit Material ab 1525) noch Weiteres findet?
    Sehr bemerkenswert ist übrigens der Kontext aller drei Stellen: 
stets schwingt mehr oder minder deutlich nicht lediglich irgendeine 
Verfehlung oder der falsche Lateingebrauch, sondern immer der gänzliche 
Verzicht auf das Lateinsprechen und der Rückgriff auf die Volkssprache 
als Monitum mit. Der Schüler, mithin der zukünftige litteratus/Gelehrte, 
der sein Latein dann doch nicht kann, aber allein schon qua 
"Schüler-Sein" mehr zu sein vorgibt als er ist - das ist der Wegweiser, 
den Überlegungen zur "Grammatik des Asinierens", wie ich es einmal ganz 
lax nennen möchte, nicht übersehen dürfen. Denn wie heißt es so schön: 
"Bî rede erkenne ich tôren, / den esel bî den ôren." (Freidank ed. 
Bezzenberger 82,10f.). Im Hintergrund steht bei Freidank wie hinter dem 
Schul-Asinus die dem MA über die kontinuierliche Verwendung im 
Schulunterricht immer bekannt gebliebene Fabel vom Esel in der 
Löwenhaut. Sie wurde v. a. in der lat. Fassung des Avian weitergegeben 
(ed. Guaglianone Nr. VI). Und sie ist die im MA am weitesten über den 
eigtl. Lateinunterricht hinaus ausstrahlende Fabel dieses Autors. Für 
das Dt. kann man das etwa hier sehen: Dicke/Grubmüller, Die Fabeln des 
Mittelalters ... (MMS 60), Nr. K117.
    Über die prominente und auch bereits genannte Abb. aus dem 
Speculum-Druck von 1488 hinaus finden Sie übrigens eine weitere 
Abbildung zur Sache aus einem Schuldruck von 1551 bei S. Kirk, 
Unterrichtstheorie in Bilddokumenten, 1988, S. 424 (mit Angabe von 
Forschungsliteratur, die freilich mit äußerster Vorsicht genossen werden 
will).

Mit besten Grüßen

M. Baldzuhn

Henriette Fiebig schrieb:
> Liebe Listen-Kollegen,
> 
> wie sie wissen bin ich Wikipedianer und als solcher gerät man an die  
> absonderlichsten Themen, denen man dann verzweifelt hinterhergoogelt  
> und -recherchiert.
> 
> Diesmal habe ich die Eselsmütze ausgegraben, die � so weit bin ich mit  
> meiner Weisheit schon � etwa ab dem 18. Jahrhundert recht sicher zu  
> den üblichen Strafen für faule Schulkinder zählte. Seltsam dünkt mich  
> (und daher die Anfrage hier bei den Mittelalterkennern), daß man auf  
> vielen Seiten im Netz die Information findet, diese Strafe habe es  
> schon �im Mittelalter� gegeben (Sie kennen das ja: Mittelalter ist  
> irgendsoein finsterer Zeitraum irgendwo zwischen den Römern und der  
> Aufklärung � da macht sich nie jemand die Mühe das mal genauer zu  
> spezifizieren)
> 
> Nun bin ich zwar recht gut ausgestattet mit Literatur zur  
> mittelalterlichen Kultur und Literatur, nur an der Literatur zur  
> Pädagogik der Zeit mangelt es mir. Allgemeine Werke zur Geschichte der  
> Schule (ich habe mal einfach nach Hamann, Bruno, Geschichte des  
> Schulwesens, Bad Heilbrunn 1993 gegriffen) sind natürlich leicht zu  
> finden, aber wo würde ich denn Informationen � so es sie überhaupt zu  
> einer derart speziellen Frage gibt! � zu Schulstrafen der Zeit finden?  
> Und/oder anders gefragt: Kennen sie Belege dafür, daß es Eselsmützen  
> (oder auch Eselreiten bzw. den Wiegenesel) als Strafe im Mittelalter  
> schon gab?
> 
> Den einzigen Hinweis fand ich hier:
> 
> * http://www.bbf.dipf.de/cgi-opac/bil.pl?t_direct=x&fullsize=yes&f_IDN=b0088668hild&transit=getback%3Dstdmask%26f_sw%3Desel%26t_kombi%3DSuche%2Bstarten
> 
> (der Titel des Werkes dürfte falsch angegeben sein; korrekt müßte  
> sein: Speculum vitae humanae von Rodrigo Sanchez de Arevalo)
> 
> Sollte das tatsächlich so zu deuten sein, daß man Schülern im späten  
> Mittelalter einen Eselskopf aufsetzte? (die Auffassung habe ich  
> nämlich auch irgendwo im Netz gefunden!) Ist das nicht eher in  
> übertragener Bedeutung a la �wer faul ist, der macht sich selbst zum  
> Esel� o. ä. zu lesen?
> 
> Für jeden Hinweis dankbar verbleibe ich mit besten Grüßen aus Berlin
> 
> Henriette Fiebig
> 
> 
> 
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