[Mediaevistik] Altbairisch??

Graeme Dunphy g at dunphy.de
Son Jun 8 23:02:22 CEST 2008


Liebe Frau Fiebig,

Ja, Ihr Engagement bei WP ist mir schon mehrmals aufgefallen (meine
Verteidigung des Projektes war eine Antwort auf die skeptische Bemerkung
von Frau Oliver - Sie brauche ich da nicht zu überzeugen).  Wie kommt es
eigentlich, dass die deutschsprachige Wikipedia viel weniger mit
Fußnoten arbeitet als die englischsprachige?  (Das scheint eine bewusste
Politik zu sein.)  Sie haben Recht - bloß die Standardwerke in einer
Bibliographie aufzulisten bringt wenig, wenn man nicht zeigen kann, man
hat sie wirklich aufgeschlagen.  Kann sein, dass ich meinen Studenten so
was auch mal gesagt habe!  

Ein eigenartiges Merkmal von Lokalpatriotismus in der Wikipedia ist der
Versuch, Dialekte zu eigenständigen Sprachen zu machen.
Sprachwissenschaftler legen eh keinen großen Wert auf diese
Unterscheidung, und sie scheint mir oft eher politisch zu sein. Das habe
ich auch in dem Artikel zu Altbairisch gewittert, was Ihre Vermutung
vielleicht unterstützt.

Aber wir Bayer brauchen doch nichts zu beweisen, oder?

g. 




Graeme Dunphy
University of Regensburg
Mobile: 0176 20982975
 
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you write to me and do not get an answer in two or three days, please
write again, or phone.
 

-----Ursprüngliche Nachricht-----
Von: mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de
[mailto:mediaevistik-bounces at mailman.uni-regensburg.de] Im Auftrag von
Henriette Fiebig
Gesendet: Sonntag, 8. Juni 2008 21:35
An: Mediaevistik: Kulturen des deutschsprachigen Mittelalters
Betreff: Re: [Mediaevistik] Altbairisch??

On 07.06.2008, at 22:14, Peter Wengel wrote:

Lieber Herr Wengel und lieber Herr Dunphy,

ich fasse mal ihre beiden Mais zusammen, um eine längere Antwort zu  
geben, _was_ mir da „spanisch“ vorkam :)

Zunächst Herr Dunphy, weil der die ganz generellen Einwände hatte:

> Nun, Altbairisch als Dialekt des Althochdeutschen ist mir schon
> geläufig. Dieser Wiki-Artikel zitiert eine Reihe von durchaus
> zitierfähigen wissenschaftlichen Quellen, die den Terminus kennen.   
> Die
> angeführten Primärtexte (Handschriften) erscheinen mir korrekt.   
> Ich bin
> auch kein Sprachgeschichtler, aber die Einwände müsste man mir erst
> erklären.

Bei mir gings damit los, daß ich den Terminus „Altbairisch“ nicht in  
meinen Althochdeutsch- und Mittelhochdeutsch-Grammatiken finden  
konnte. Die hatte ich allerdings auch schon 1989 erworben und wenn  
ich die Angabe von Herrn Wengel sehe (Braune/Reiffenstein,  
Althochdeutsche Grammatik I, Laut- und Formenlehre, 15. A. Tübingen  
2004), dann ist schlicht meine Literatur veraltet :) Inzwischen habe  
ich auch den Aufsatz von Reiffenstein aus der „Sprachgeschichte“ von  
Besch et al.: Der überschreibt ein Kapitel ganz explizit mit  
„Altbairisch“ und damit (und ihren Äußerungen) ist der Terminus für  
mich erstmal als gesichert anzunehmen.

Das Problem war vor allem, daß der Ersteller des Artikels über  
Altbairisch auch den Artikel „Religion der Bajuwaren“ angelegt hatte  
und dort in einem Kapitel zum „Katholizismus“ (http://tinyurl.com/ 
3ef3je) schrieb, einige Althochdeutsche Texte (Zitat): „aus  
altbairischen Kontext stammend, geben einen Einblick in die  
Religiosität [der Bajuwaren]“ (Zitat Ende) Nun konnte man diese Texte  
(siehe meine Verlinkung) zwar jeweils entweder einem bairischen  
Kloster oder der bairischen Schriftsprache zuordnen, ich bezweifele  
aber sehr, daß man z. B. aus dem Musipilli, den Basler Rezepten, dem  
Wiener Hundesegen oder dem Pro Nessia eine speziell altbairische oder  
bajuwarische Religiosität ablesen kann – ich lasse mich aber gern  
eines besseren belehren ;))

Herr Dunphy sagt freundlich, daß der Text über das Altbairische  
zitierfähige Quellen „zitiert“. Da bin ich ein bisschen pingeliger:  
Der Artikel führt einige – zweifellos von reputablen Leuten stammende  
– Literatur auf. Mit Einzelnachnachweis (also Fußnoten) sind die aber  
nicht den jeweiligen Äußerungen im Text zugeordnet. Da ich weiß, daß  
Wikipedia-Artikel meist aufgrund von ergoogelten Ergebnissen erstellt  
werden, bin ich immer extrem vorsichtig damit anzunehmen, daß auch  
die angegebene Literatur für die Erstellung des Textes verwendet  
wurde. Und es hat auch wirklich sehr viel hartnäckiges Nachfragen  
beim Autor gebraucht, bis er mir wenigstens das Handbuch von Besch  
als Ort angab, wo der Terminus verwendet wird – sowas läßt mich immer  
ganz, ganz vorsichtig werden! Hätte der Autor all diese Aufsätze  
tatsächlich gelesen und für seinen Artikel verwendet, dann hätte doch  
eigentlich der Verweis auf die Literaturliste gereicht, oder? Der kam  
aber nicht. Stattdessen hat er wohl über Google-Books gesucht und  
dann wenigstens bei Reiffenstein (in Beschs Sprachgeschichte) einen  
Nachweis gefunden. Solche Sachen sind mir immer hochsuspekt.

>
> Die Wikipedia ist sehr jung.  Ich kenne kein anderes Projekt, das  
> in so
> wenigen Jahren so viel erreicht hat.  Es wäre ungerecht zu erwarten,
> dass sie überall gleich reif wäre.  Es wäre auch ungerecht zu  
> erwarten,
> dass sie etwas bietet, was sie nicht beansprucht: sie ist ein
> allgemeines Nachschlagwerk wie der Brockhaus (aber besser), die  
> schnelle
> Antworten auf die ersten Fragen von Nicht-Fachkundigen liefert, und  
> dann
> den Weg in die Fachliteratur zeigt.  Und dass macht sie eigentlich  
> recht
> gut.

Ich bin seit vier Jahren Admin in der Wikipedia und arbeite dort  
täglich mit: Ich mag das Projekt, ich kenne seine Tücken und  
Schwächen :)) Ich erwarte bestimmt nicht zuviel. Wenn ich aber  
erstmal einen Autor finde, der lauter Artikel aus einem einzigen  
kleinteiligen Gebiet anlegt (von ihm stammen „Altbairisch“,  
„Bajuwaren“ und „Religion der Bajuwaren“) und auf Nachfrage keine  
Einzelnachweise für einzelne Behauptungen im Text angeben kann, in  
der Diskussion um den heißen Brei herumredet und auch sonst den  
Eindruck macht, daß er ein bestimmtes Ziel verfolgt (hier: eine  
irgenwie geartete Aufwertung oder Betonung der Bajuwaren), dann fange  
ich an die Dinge zu hinterfragen. Das kann man überkritisch nennen  
(ist es wohl auch ;), die Erfahrung aus 4 Jahren WP lehrt aber, daß  
man das häufig auch sein muß.

Sie dürfen nicht vergessen, daß WP von unglaublich vielen Menschen  
als verläßliches Nachschlagewerk angesehen wird. Ob die tatsächlich  
nur als erster grober Überblick genutzt wird, an den sich dann die  
vertiefende Lektüre der Fachliteratur anschließt, das bezweifele ich.  
Sie und ich benutzen die WP so; bei den Heerscharen der Schüler und  
Studenten, die ihre Hausaufgaben und Seminirarbeiten damit erledigen,  
glaube ich das nicht (allerdings: _Wissen_ tut das keiner so genau :)

>
> Auf der Diskussionsseite von diesem Artikel steht, dass der Artikel  
> noch
> im Entstehen ist, und um Hilfe wird gebeten.  Das ist ehrlich.  Also
> bitte nicht zynisch sein, sondern mithelfen, wenn Sie mal einen Fehler
> sehen.

Ich vermutete hier einen Fehler und darum hab ich nachgefragt. Ganz  
wie gewünscht :)

Und nun zu Herrn Wengel:

> das Ahd. kennt natürlich Bair. als Dialekt, der auch als Altbair.  
> bezeichnet wird/werden kann. Grundlegen ist hier immer noch: Josef  
> Schatz, Altbairische Grammatik, Laut- und Flexionslehre, Göttingen  
> 1907. Wem diese als zu alt erscheint, mag einen Blick in Wilhelm  
> Braune, Ingo Reiffenstein, Althochdeutsche Grammatik I, Laut- und  
> Formenlehre, 15. A. Tübingen 2004, § 5b, S. 8f. werfen. Ein,  
> zugegeben flüchtiger, Abgleich der Grammatiken mit dem Artikels und  
> den dort angeführten handschriftlichen Quellen, der Datierungen  
> etc. haben keine wesentlichen Gründe für Beanstandungen ergeben.

Das die Texte entweder im bairischen Raum entstanden sind oder in  
bairischer Schriftsprache verfasst, das zweifele ich auch gar nicht  
an – das habe ich eh vorher in zwei Literaturgeschichten nachgeprüft.

> Sicher kann man sich an der ein oder anderen Formulierung reiben,  
> gänzlich abstruses begegenete mir nicht. Für eine erste  
> Orientierung erscheint er hinreichend. Aber vielleicht hilft ja ein  
> konkretisierender Hinweis, was im Artikel spanisch sein könnte, um  
> dies nochmals genau zu überprüfen.

Mir kommt die Einleitung spanisch vor:

„Als Altbairisch bezeichnet man die Sprache der frühesten Texte aus  
althochdeutscher Zeit (8. Jh. bis ca. 1050 n. Chr.), die im damaligen  
Herzogtum Bayern sowie von aus diesem Gebiet stammenden Schreibern  
niedergeschrieben wurden. Altbairisch war die Sprache der Bajuwaren,  
bevor im Hochmittelalter eine überregionale deutsche Literatursprache  
(Mittelhochdeutsch) entstand. Aus der Zeit der bajuwarischen  
Ethnogenese im 6. Jahrhundert sind keine schriftlichen Quellen der  
Sprache überliefert, die ersten altbairischen Texte stammen aus dem  
ausgehenden 8. Jahrhundert. Alle Aussagen, die sich auf die Zeit  
davor beziehen, basieren auf linguistischen Rekonstruktionen.“

Nun schweigt sich der WP-Text über die Bajuwaren (wie gesagt vom  
gleichen Autor) darüber aus, bis _wann_ man eigentlich von den  
Bajuwaren spricht. Wenn ichs richtig sehe, dann ist es mit denen als  
explizit genanntem Volksstamm im Jahr 788 mit dem Tod Herzog Tassilos  
III. vorbei, weil dessen Herrschaftsgebiet danach dem Frankenreich  
„einverleibt“ wurde (wie es im Artikel so schön heißt). Nun haben wir  
vor 788 vielleicht drei althochdeutsche Texte, die man bei aller  
Vorsicht dann „bajuwarische Literatur“ nennen könnte, aber spricht  
man davon tatsächlich noch bis zum Jahr 1050? Der Autor ist nämlich  
der Ansicht (hat er in einer Diskussion geäußert), daß es sich bei  
diesen altbairischen Texten um explizit bajuwarische Literatur handelt!

Kurz gesagt: Aus den Artikeln, die der Autor angelegt hat und den  
Diskussionen mit ihm, ahne ich einen Versuch irgendeine Form von  
„Bajuwarischer Nationalliteratur“ herbeizureden und das kommt mir  
tatsächlich _sehr_ spanisch vor!

Vielen Dank für ihre bisherigen Hinweise, beste Grüße und bin  
gespannt auf weitere Antworten :)

Henriette Fiebig

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