[Mediaevistik] Rezension: Scriptores possessoresque codicum medii aevi

Klaus Graf klaus.graf at geschichte.uni-freiburg.de
Don Dez 28 17:14:16 CET 2006


2006 September:
Sigrid Krämer: Scriptores possessoresque codicum medii aevi

Datenbank von Schreibern und Besitzern mittelalterlicher
Handschriften
Database of mediaeval manuscripts' scribes and owners

"Erweiterte und ergänzte Fassung der 2003 erschienenen
ersten Ausgabe der 'Scriptores codicum medii aevi'.
Hinzugefügt wurden ferner Sigirid Krämers 'Possessores
codicum medii aevi', eine Sammlung von internationalen
Besitzern mittelalterlicher Handschriften.
    Nun mehr als 33.000 Namen von Schreibern und mehr als
15000 Namen von mittelalterlichen und neuzeitlichen
Besitzern und Handschriftensammlern, in über 30 Jahren
gesammelt, nicht allein aus Handschriften deutscher
Provenienz, sondern aus dem ganzen mittelalterlichen
Europa. Soweit eruierbar werden neben
Handschriftennachweisen auch biographische Daten und
Literaturangaben geboten.

Originalsammlungen, die nur als Datenbank verfügbar sind
und nicht im Druck erschienen (würde ca. 15 Bände
umfassen).

Anfang 2007 wird die Datenbank deutschlandweit als von der
DFG geförderte Nationallizenz über die Bayerische
Staatsbibliothek zur Verfügung gestellt.

    Only online / Nur als Online über Lizenzen verfügbar
(only Online-licenses). 
    Private licenses / Privat (keine Institutionen) Euro 85
p.a. excl. VAT / ohne MwSt.
    Institutional and campus licenses please contact /
Institutions-Lizenzen auf Anfrage."

So die Verlagsinformation unter
http://www.erwin-rauner.de/wissenschaft.htm#scriptores

Fuer diese Rezension wurde mir der Zugang von Herrn Rauner
freundlicherweise ermoeglicht.

Schade, dass die DFG diese Datenbank nicht fuer weltweiten
"Open Access" freigekauft hat. Wer einen deutschen Wohnsitz
hat, kann mit Freischaltung der Nationallizenz nach
Beantragung eines Zugangs die Datenbank kostenfrei
benutzen. Die anderen muessen eben sehen, ob sie die 85
Euro jaehrlich entrichten moechten oder ob sie jemand
kennen, der fuer sie recherchiert ...

Die Vorgaengerversion (nur Scriptores) habe ich im Januar
2004 besprochen:
http://www.aedph.uni-bayreuth.de/2004/0042.html

Es sind laut Vorwort rund 500 neue Schreibernamen
hinzugekommen. Meine Beanstandungen hinsichtlich des
Artikels Bollstatter wurden ignoriert, der Artikel ist
immer noch genauso fehlerhaft, wie er 2003 war.

Fuer die Besitzerdatei (keine Institutionen!) gilt nichts
anderes als fuer die Schreiberdatei: Sie ist eine
(konkurrenzlose) Kompilation, deren Angaben in jedem Fall
ueberprueft werden muessen.

Sehr haeufig sind neuere Forschungsergebnisse nicht
beruecksichtigt (beispielsweise ist der Bd. 11 des
Verfasserlexikons bei Thomas Finck nicht ausgewertet). Von
den unzaehligen Schreibfehlern einmal abgesehen, die bei
Handschriftensignaturen durchaus aergerlich sein koennen.
Nicht wenige Eintraege sind fragmentarisch (etwa der zu Job
Vener als Possessor).

Zu Jörg Ruch zitiere ich den Eintrag:

"Ruch, Georgius    possessor      1438   

1438
Presbiter, wohl in Tübingen. Pro tunc plebanus in Lutrien.
Possessor libri presentis anno 1438.

Handschriften

Bryn Mawr, PA, Bryn Mawr College Library, 3.
Oxford, Bodleian Library, Douce 355 (SC 21930).

Literatur

Bond-Faye, S. 434.
Madan, Oxford 4, S. 603."

Seit 2002 sind meine Ausfuehrungen zu Ruch online, die
diesen fehlerhaften Eintrag berichtigen:
http://www.histsem.uni-freiburg.de/mertens/graf/ruch.htm

Zwei weitere Handschriften, die mir nachtraeglich bekannt
wurden (eine in der Rottenburger Dioezesanbibliothek, eine
in Irland), fehlen bei Kraemer.

Dass der Gmuender Dominikaner Appolt in Wirklichkeit Oppolt
hiess, habe ich bereits 1993 hervorgehoben:
http://www.bsz-bw.de/rekla/show.php?mode=source&id=28

Den Charakter als nicht hinreichend redigierte Kompilation
mag auch die Suche nach Kempten verdeutlichen. Auf den
Schulmeister Johannes Birk beziehen sich folgende
Eintraege:

"Burck, Johannes   scriptor      E.15.Jh.   

1490/97 in der Schule in Kempten z. Zt. des Magisters
(Schulmeisters) Murck [sic!] geschrieben.

Handschriften

Stuttgart, LB, HB. XII. 5, fol. 107r (a. 1490/97)."

"Tallat (Tollat, Dalat), Johannes   scriptor      15.Jh.   

15.Jh.
Alemannischer Baccalaureus artium, der unter dem Rektorat
von Johannes Birk von Biberach an der St.
Hildegard-Lateinschule des Benediktinerstifts Kempten tätig
war. Magister in der Schule von Kempten (Allgäu). Unter ihm
wird geschrieben: Hs. Stauttgart [sic!].   Daneben verfaßt
er ein Kräuterbuch um 1497.

Handschriften

Stuttgart, LB, HB. XII. 5, fol. 81v, 107v (partim)." 

Und schliesslich:

"Massilia, Gotfridus de  	
	
Sub castro Hylemont in Ludovici pii imperatoris
cancellaria. Scriptum Campidone (in Kempten) pro
liberaria."

Dieser karolingerzeitliche Schreiber ist, wie man seit
langem weiss, eine Erfindung von Johannes Birk, zu dem es
uebrigens einen Verfasserlexikon-Artikel von Johanek gibt! 

Dass zusaetzlich Lindau P I 1 ebenfalls aus dem Umkreis von
Birk stammt, ist nicht nur in meiner Dissertation von 1987,
neuerdings online
http://mailman.uni-regensburg.de/pipermail/mediaevistik/2006-December/000013.html
, sondern auch im Verfasserlexikon ²9, 472 nachzulesen.

Misslich ist natuerlich, dass bei Kraemer Hinweise auf den
Besitz gedruckter Buecher fehlen. Fuer die Inkunabeln
existiert die private Zusammenstellung von Paul Needham
("IPI").

Eine brauchbare Vernetzung zwischen
Handschriftensignaturen, Schreibern und Besitzern gibt es
in der Datenbank nicht. Bei dem Besitzer Johannes Andree
(15. Jh.) auf einen gleichnamigen Schreiber des 14.
Jahrhunderts zu verweisen, ist wenig hilfreich.

Verweise sind nicht als Links markiert, man muss eine neue
Suche starten, wobei die Handhabung der Datenbank durchaus
gewoehnungsbeduerftig ist. Ein kommerzielles Produkt sollte
mehr Komfort bieten, z.B. eine Volltextsuche ueber alle
Felder.

Bei aller Klage ueber die Unzulaenglichkeiten, die vielen
Luecken und Fehler, bietet die Datenbank doch sonst nicht
erhaeltliche wichtige Aufschluesse. Wenn man etwa nach
"Arzt" in den Biographien sucht, wird deutlich, welche
Rolle Aerzte in der Buchkultur des Mittelalters und der
Neuzeit gespielt haben.

Gleichwohl: Eine frei zugaengliche, nach dem Wiki-Prinzip
ergaenzbare prosopographische Datenbank mittelalterlicher
Schreiber und Buchbesitzer ist ein Desiderat. Bis dahin
muss man fuer die Kraemersche "Kruecke" dankbar sein.

Klaus Graf